Methoden

Selbstverständigung, so Klaus Holzkamp in seinem letzten Text über alltägliche Lebensführung,

„bedeutet vor allem anderen ‚Verständigung mit mir selbst‘ über ein von mir Gemeintes, hier: über ‚Lebensführung‘: Ich bin darauf aus, etwas, das ich schon ‚irgendwie weiß‘, für mich reflexiv faßbar, das Implizite explizit, das Undeutliche deutlich zu machen (…) Damit ist … potentiell auch der Andere in den Selbstverständigungsprozeß einbezogen, er ist aufgefordert oder es ist ihm anheimgestellt, meinen Versprachlichungsprozeß bei sich nachzuvollziehen, um herauszufinden, ob er damit auch zu größerer Klarheit, etwa über ‚Lebensführung‘, zu gelangen vermag“.

Kurz: Ich versuche mich zu verstehen, meine Gründe zu kapieren, meine Emotionen zu entschlüsseln, meine Gedanken zu reflektieren, mein Handeln zu befragen. Das kann ich alleine tun – Tagebuch schreiben ist so eine Möglichkeit. Ich kann es aber auch mit anderen in einer strukturierten Form zusammen tun. Dabei kann eine Gruppe unterschiedliche Gesprächsleitfäden zur Unterstützung nutzen. Diese methodischen Leitfäden strukturieren das Sprechen und sind kleine Helferlein beim Lernen. Zentral für das Lernen sind die Begriffe, in denen wir lernen, denken und sprechen. Sie eröffnen Einsichten oder verhindern sie. Bei der Kollektiven Selbstverständigung (KSV) kommen die wichtigsten Begriffe aus der Kritischen Psychologie.

Für die KSV brauchen wir einen intersubjektiven Verständigungsrahmen, also Bedingungen, in denen wir uns wohlfühlen und strukturiert sprechen können. Dazu gehören im Wortsinne der Raum des Treffens, seine Einrichtung, die Beleuchtung, die Sitzmöbel, die Akustik, Temperatur etc. wie auch Getränke, Essen, Flipchart mit Papier und Stiften o.ä. und nicht zuletzt ausreichend Zeit. Dazu gehören aber auch methodische Unterstützungen wie Moderation, Redestäbe oder Formen der Gesprächsführung. Zwei Beispiele aus der KSV-Praxis seien kurz vorgestellt.

(1) Nach dem Vorbild des Zwiegesprächs erhält eine Person 15 Minuten Redezeit (variierbar), in der sie zu einem selbst gewählten oder vorher vereinbarten Thema aus der eigenen alltäglichen Lebensführung spricht. Es bietet sich an, über eine subjektiv als problematisch empfundene Situation zu berichten. Alle anderen Teilnehmer*innen hören zu, es werden keine Fragen gestellt. Anschließend sprechen die Teilnehmer*innen darüber, was sie wahrgenommen haben und formulieren Fragen an die berichtende Person (z.B. auch 15 Minuten lang), die kommentarlos zuhört. Dieses Setting kann z.B. um den Prozess beobachtende und reflektierende Personen erweitert werden, die jedoch anders als beim Reflecting Team der Systemischen Therapie keinen therapeutischen Status haben müssen. Die Fragen werden auf einem Flipchartbogen lesbar für alle notiert. Anschließend kann die berichtende Person zu den eher verständnis- oder faktenorientierten Fragen kurz Stellung nehmen und wählt aus den verbleibenden zwei oder drei ihr bedeutsam erscheinende Fragen aus. Bedeutsam können Fragen sein, wenn sie auf bislang unthematisierte Spuren führen, einen angesprochenen Komplex vertiefen, zum Widerspruch reizen etc. – über die Bedeutsamkeit entscheidet die berichtende Person. Sie nimmt sich eine der bedeutsamen Fragen und beginnt mit einer Antwort das gemeinsame Gespräch, in dem es darum geht, das angesprochene Thema möglichst umfassend zu ergründen. Nun bringen auch andere Personen ihre Perspektiven mit in das Gespräch ein und bereichern so die Sicht auf den gewählten Gegenstand.

(2) Im zweiten Beispiel wird zunächst in der Gruppe ein Thema verabredet, zum dem alle beteiligten Personen eine gewisse Zeit sprechen (10 bis 15 Minuten). Das Thema sollte alle gleichermaßen bewegen. In der Runde sprechen die Beteiligten zu ihrem persönlichen Bezug auf das Thema, berichten etwa von Konfliktsituationen, die das Thema illustrieren können etc. Auch für solche Runden hat es sich bewährt, zunächst keine Fragen zu stellen (sondern sie sich ggf. zu notieren) oder zu diskutieren. Dies geschieht erst, wenn die Runde abgeschlossen ist und alle Perspektiven „auf dem Tisch liegen“. Aufkommende Fragen oder Thesen können notiert werden und die Grundlage für weitere Runden darstellen.

Intensität und Tiefe der Gespräche können sehr unterschiedlich sein. Entscheidend ist, ob der bewusst geschaffene Raum das Vertrauen bietet, das es den Teilnehmenden ermöglicht, offen zu sprechen und ihre u.U. angst- und schambesetzte Problematik darzustellen. In weiteren Schritten geht es darum, die verschiedenen individuellen Perspektiven aufzulösen – das wird Dezentrierung genannt – und das Gemeinsame in ihnen herauszudestillieren. Schematisch gedacht sind dazu drei Schritte notwendig: Je ich erkenne und formuliere die Gründe meines Handelns; je ich verstehe, auf welchen Prämissen – meine individuelle Weise der Wahrnehmung und Wertung der Realität – meine Gründe beruhen; gemeinsam erkennen wir das gesellschaftlich Gemachte und objektiv Bedeutsame dieser gemeinsam geteilten Realität. Im Idealfall erkenne ich nun meine Gründe, Prämissen und Handlungen als eine von vielen möglichen Weisen, sich bewusst zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verhalten. Von hier aus sind Alternativen des bewussten Verhaltens zu dieser Wirklichkeit, der Veränderung von Handlungsbedingungen und damit der Schaffung neuer Handlungsmöglichkeiten erschließbar.

Klingt kompliziert? Ist es auch. Dies deshalb, weil die gesellschaftlichen Denk-, Fühl- und Handlungsformen etwas anderes nahelegen: Ich bin auf mich gestellt und meines Glückes Schmied, und wenn ich mit der Realität nicht klarkomme, dann bin ich selbst Schuld – oder andere sind Schuld. Diese nahegelegte personalisierende Form des Denkens, Fühlens und Handelns gilt es in Richtung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit zu durchbrechen.

Ist nun deutlicher geworden, warum Gesprächsleitfäden dabei zwar Hilfestellungen leisten können, aber nicht der Trick sein können, mit dem wir uns verstehen können, jede und jeder sich selbst? Nicht zuletzt liegen manchen Menschen bestimmte methodische Unterstützungen mehr als andere. So haben KSV-Gruppen zum Beispiel gute Erfahrungen mit zunächst nonverbalen Formen der Kommunikation gemacht, etwa der Contact Improvisation. Das ist eine freie Form des Tanzens, bei der es um die Erkundung von Bewegungsmöglichkeiten im Körperkontakt mit anderen geht. So werden individuelle wie gesellschaftliche Muster der Begegnung erfahrbar und im Gespräch reflektierbar.

Stefan Meretz